Warum wir uns ständig entschuldigen – und wann das wirklich schadet
„Entschuldigung, könnte ich mal…“ – „Sorry, aber ich wollte nur…“ – „Tut mir leid, dass ich…“ Klingt vertraut? Dann bist du nicht allein. In vielen westlichen Kulturen, besonders hier in Deutschland, gilt übermäßiges Entschuldigen als Ausdruck von Höflichkeit. Doch was, wenn genau das unserem Selbstwertgefühl schadet, unsere Beziehungen ins Wanken bringt oder uns im Job weniger ernst genommen werden lässt?
Es ist Zeit, das Phänomen des ständigen Entschuldigens zu entmystifizieren und zu erkennen, wann ein „Sorry“ wirklich hilfreich ist und wann es uns eher kleinmacht.
Warum entschuldigen wir uns überhaupt so oft?
Entschuldigungen sind weit mehr als nur gute Manieren. Der Psychiater Dr. Aaron Lazare bezeichnet sie als „sozialen Klebstoff“ – sie helfen uns, Konflikte zu lösen und Beziehungen zu heilen. Kein Wunder also, dass sie so häufig zum Einsatz kommen.
Eine Studie der University of Waterloo zeigt, dass Frauen sich tatsächlich häufiger entschuldigen. Nicht wegen häufiger Fehltritte, sondern weil sie sensibler dafür sind, wann eine Entschuldigung angemessen ist. Interessant: Deutsche entschuldigen sich kulturell bedingt oft häufiger als Nordamerikaner – ein Produkt gesellschaftlicher Erwartungen hinsichtlich Höflichkeit und Rücksichtnahme.
Typisch deutsch: Die präventive Entschuldigung
In Deutschland gilt: Wer höflich ist, entschuldigt sich – gern auch, bevor etwas überhaupt schiefgeht. „Entschuldigung, ich würde gern zahlen“ – als wäre der Wunsch zu gehen ein Regelverstoß. Die Soziolinguistik nennt das eine präemptive Entschuldigung. Sie soll Spannungen abwenden, obwohl keine in Sicht sind.
Die Psychologin Dr. Karina Schumann beschreibt mehrere Gründe, warum Menschen sich entschuldigen:
- Echte Reue: Man hat tatsächlich einen Fehler gemacht.
- Sozialer Schmierstoff: Um höflich zu wirken oder Konflikte zu vermeiden.
- Geringes Selbstwertgefühl oder Konfliktangst: Man übernimmt lieber zu viel Verantwortung als zu wenig.
- Gesellschaftliche Konvention: Entschuldigung als Gesprächseröffnung oder Ausdruck von Freundlichkeit.
Wenn Entschuldigungen krank machen
Der zu häufige Gebrauch von Entschuldigungen kann schädliche Folgen haben – psychisch, sozial und in der Wahrnehmung durch andere.
1. Entwertung des Selbstwerts
Ständiges Entschuldigen sendet unterschwellig die Botschaft: „Ich bin nicht wichtig.“ Die Psychotherapeutin Dr. Beverly Engel warnt, dass übermäßiges Entschuldigen den eigenen Selbstwert untergraben und Gefühle von Unterlegenheit verstärken kann.
2. Einbußen an Glaubwürdigkeit
Laut einer Studie der Harvard Business School wirken Menschen, die sich ständig entschuldigen, weniger kompetent und vertrauenswürdig. Wer für jede Kleinigkeit „Sorry“ sagt, wird nicht mehr ernst genommen – auch dann nicht, wenn eine echte Entschuldigung angebracht wäre.
3. Du sammelst fremde Schuld
„Tut mir leid, dass du gestresst bist.“ „Sorry für das Wetter.“ Übertriebene Entschuldigungen führen häufig dazu, dass man fremde Verantwortung auf sich zieht. Dauerhafte Selbstanklagen können dazu führen, dass andere stillschweigend mehr Schuld auf dich abwälzen – emotional und kommunikativ.
Was im Innern passiert: Die Psychologie der Entschuldigung
Schuld versus Scham
Der Sozialpsychologe Dr. Roy Baumeister unterscheidet klar zwischen Schuld und Scham:
- Schuld: „Ich habe etwas falsch gemacht“ – kann Motivation zur Wiedergutmachung sein.
- Scham: „Ich bin grundsätzlich falsch“ – führt oft zu Rückzug und Selbstsabotage.
Menschen, die sich übermäßig entschuldigen, rutschen häufig von nachvollziehbarer Schuld in toxische Scham – und verlieren dabei das Gefühl, ein Recht auf Anerkennung oder Raum zu haben.
Chronischer Stress durch Dauer-Entschuldigungen
Ständiges soziales Unterordnen kann zu erhöhtem Stress führen. Unser Körper reagiert auf gefühlte soziale Bedrohungen mit der Ausschüttung von Cortisol – einem Stresshormon. Auch wenn es keine direkte Studie zum Zusammenhang zwischen Entschuldigungshäufigkeit und Cortisol gibt, legen Forschungen nahe, dass dauerhaft empfundener sozialer Druck das Stressempfinden massiv erhöhen kann.
Die Entschuldigungs-Typen: Erkennst du dich wieder?
Zwar handelt es sich hier nicht um wissenschaftlich validierte Kategorien, aber Psychologinnen wie Dr. Harriet Lerner haben hilfreiche Typologien entwickelt, um verschiedene Muster des Entschuldigens besser zu verstehen:
Der Reflexive Entschuldiger
Dein erster Reflex in jeder Situation: „Sorry“. Du entschuldigst dich schon beim Betreten eines Raums – nur für deine bloße Anwesenheit.
Der Konfliktvermeider
Du sagst schnell „Entschuldigung“, um Konfrontationen zu umgehen – selbst wenn du im Recht bist.
Der Strategische Entschuldiger
Du nutzt „Sorry“ als Kommunikationsmittel, um um etwas zu bitten oder Empathie auszulösen – clever, aber riskant, wenn es zur Gewohnheit wird.
Der Perfektionist
Fehler sind für dich keine Lernerfahrungen, sondern Makel. Entsprechend entschuldigst du dich selbst für kleinste Versehen.
Wenig sorry, starkes Ich – wann Entschuldigungen wirklich Sinn machen
Gute Entschuldigungen brauchen diese Voraussetzungen:
- Du hast objektiv einen Fehler gemacht
- Dein Verhalten hat jemand anderem geschadet
- Du willst echten Kontakt oder dein Verhalten verantworten
- Es liegt dir ehrlich am Herzen
Keine Entschuldigung nötig ist bei:
- Deinen Bedürfnissen oder Emotionen: Hunger, Ruhebedürfnis, Traurigkeit sind keine Vergehen
- Den Handlungen anderer: Du bist nicht verantwortlich für das Benehmen von Freunden, Partnern oder Kollegen
- Äußeren Umständen: Wetter, Verspätungen, technische Pannen
- Alltagskommunikation: Sagen, was du denkst, jemanden etwas fragen oder um etwas bitten ist dein gutes Recht
Was du tun kannst: Praktische Wege aus der Entschuldigungsfalle
1. Wahrnehmungstraining
Führe eine Woche lang ein Entschuldigungs-Tagebuch. Notiere bei jedem „Sorry“:
- Worum ging es?
- War es überhaupt nötig?
- Wie hast du dich danach gefühlt?
Oft hilft schon diese Achtsamkeit, um automatische Muster zu hinterfragen.
2. Neue Sprache, neues Mindset
Ersetze überflüssige Entschuldigungen durch kraftvolle Alternativen:
- „Danke fürs Warten“ statt „Sorry für die Verspätung“
- „Ich hätte eine Frage“ statt „Entschuldigung, darf ich fragen…?“
- „Das ist mir wichtig“ statt „Tut mir leid, dass ich emotional bin“
3. Die innere Check-Frage
Bevor du dich entschuldigst, halte innerlich kurz inne und frage dich: „Habe ich wirklich etwas falsch gemacht?“ In vielen Fällen wirst du feststellen: nein.
4. Selbstwert stärken
Stärke bewusst dein Selbstbild. Zum Beispiel so – jeden Morgen, vor dem Spiegel:
- „Ich muss mich nicht dafür entschuldigen, dass ich Raum einnehme“
- „Ich muss mich nicht für meine Bedürfnisse entschuldigen“
- „Ich darf meine Meinung äußern“
Ein neues Mindset: Qualität statt Quantität
Ein „Sorry“ ist kein Allzweckpflaster – es ist ein Geschenk. Wer es zu oft verteilt, entwertet es. Wer es gezielt einsetzt, gewinnt Respekt, Nähe und Authentizität.
Der neue Standard für echte Entschuldigungen:
- Sie sind verdient – nur bei echtem Fehlverhalten
- Sie richten sich an die richtige Person
- Sie kommen ehrlich und reflektiert
- Sie stehen im Dienst echter Verbindung – nicht der eigenen Selbstverkleinerung
Sorry, not sorry – sei authentisch, nicht reflexartig
Übermäßiges Entschuldigen ist kein Zeichen von Anstand – sondern oft ein Indiz innerer Unsicherheit. Wenn wir uns ständig für unsere Gefühle, Bedürfnisse und Meinungen rechtfertigen, geben wir ein Stück unserer Selbstachtung ab.
Doch es geht auch anders. Wer bewusster mit Entschuldigungen umgeht, stärkt sein Selbstvertrauen, verbessert seine Beziehungen und gewinnt Klarheit in der Kommunikation.
Du musst dich nicht entschuldigen, nur weil du da bist. Du darfst Raum einnehmen. Du darfst du selbst sein. Punkt.
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